Zwei Sportler*, zwei Geschichten: Coaching auf einer der anspruchsvollsten Laufstrecken der Welt – beim Grand Raid bringen 165 km und 9.600 Höhenmeter Läufer ans Limit.
Verrückt? Bewundernswert? Die Meinungen gehen auseinander, wenn ich vom „Grand Raid –Diagonales des Fous“ erzähle, bei dem ich zwei Topläufer begleite. Die „verrückte Diagonale“ wartet mit einer Länge von 165 km auf, dazu kommen fast 10.000 Höhenmeter. Wieso zum Teufel tut man sich das an? Was ist die Motivation?
Als ich meine beiden Coachees aus Toulouse traf, stellte ich ihnen genau diese Frage. Denn wie sollte ich sie mental auf dieser Strecke betreuen, wenn ich nicht wusste, was sie antreibt? Die Antworten der beiden waren ähnlich: Es geht darum, die eigenen Grenzen zu erfahren und kennenzulernen. Zu wissen, dass man es schaffen kann, obwohl der Körper schon müde ist, dass man mit mentaler Stärke immer noch ein Stückchen weiterkommt, wenn man nicht aufgibt. Ein solcher Lauf ist eine Erfahrung fürs Leben: Mit diesem Wissen lässt sich so manche Situation gut meistern.
Was für eine Trauminsel! La Réunion, gelegen mitten im indischen Ozean, umzingelt von Haien. Auch ein Beweggrund für meine beiden Sportler: neue Landschaften mal anders zu erkunden – nämlich laufend. Meine Aufgabe vor Ort: Neben der Lieferung von Wechselkleidung und Essen war ich für „gute Worte“ zuständig. Eigentlich das Wichtigste: die mentale Unterstützung, die Motivation. Aber wann weiß man, ob jemand noch kann oder eigentlich besser aufhören sollte? Das sollte ich herausfinden, indem ich immer wieder ein paar Kilometer mitlief, einfach an der Seite der beiden war und die richtigen Worte fand.
Für mich war es Abenteuer und Verantwortung zugleich. Ohne GPS und wie früher mit der Karte nachts durch die Berge zu fahren, die fast senkrecht in die Höhe ragten und garantiert während Regenzeiten nicht passierbar sind; den richtigen Ort zu finden mitten in der Nacht; auf der Rückbank des Autos zu schlafen, um morgens früh pünktlich am Checkpoint zu sein, an dem wir verabredet waren. Nichts wäre schlimmer gewesen, als die beiden zu verpassen. So fuhr ich kreuz und quer über die Insel und habe – wie meine beiden Coachees drei Nächte kaum geschlafen.
Was macht das mit jemandem, der nach 100 km aufhören muss, weil er sich den Fuß so schlimm verletzt hat, dass an Weiterlaufen schlichtweg nicht zu denken ist? Wie geht man mit dem Gefühl um, es nicht geschafft zu haben? Die meisten Menschen sagen „Wow, 100 km und dazu noch einige Höhenmeter, das ist doch ausgesprochen klasse!“ Doch in einem Läufer, der sein Ziel nicht erreicht hat, sieht es anders aus. Die Frustration ist riesig. Jetzt geht es darum, die Dinge in Relation zu setzen, im Kopf und Herzen neu zu ordnen. Was nehme ich daraus mit? Was bedeutet es für mich und was kann ich davon lernen? Wichtig ist doch, wie man solche Erlebnisse und auch die Niederlagen verarbeitet.
Und was passiert, wenn man statt der avisierten 42 Stunden letztlich acht mehr braucht schließlich mit 50 Stunden das Ziel erreicht? So erging es meinem zweiten Kandidaten. Glücklicherweise konnte er sich trotzdem maßlos darüber freuen, war überglücklich und sehr stolz. Und ich? Ebenfalls! Denn mir war in erster Linie wichtig, dass er gesund durchs Ziel läuft. Durchs Ziel läuft? Es kam sogar noch besser: Er schwebte regelrecht über die Ziellinie. Ein wunderbarer Moment für alle Beteiligten!
* Liebe Leserinnen und liebe Leser! In meinen Blogtexten benutze ich abwechselnd die weibliche und männliche Form. Ich habe mich dafür entschieden, um den Lesefluss nicht durch *innen oder ähnliche Variationen des Genderns zu stören.